Neuropa

Ein Roman von Ruben Erlích

 

Selbst das alte Rom hatte so eine Trauerfeier noch nicht gesehen. Eineinhalb Millionen nehmen an der Beerdigung teil: Eurokommunisten, Kommunisten, Bollinger Bolschewiken, Prosecco Proletarier, Christen und Anarchisten, Staatsmänner, Mafiosi und Vertreter des Vatikan, Bürgermeister in Trikolore, Legionäre, Touristen, Delegationen aus aller Welt und PCI (Partito Comunista Italiano) Delegationen schaffen das rote Meer.

Claudio strandet im Zuge der Prozession in den Massen auf der Piazza San Giovanni. In seinem Anzug erinnert nichts daran, dass er mal ein vielversprechender Zweitliga-Torwart in Argentinien war. Wieso auch? Die Angst und das Warten hatte er in der ESMA (→ Glossar) gelernt. Die einsame Eleganz hatte er sich von Enrico Berlinguer abgeschaut. Claudio ist fein betucht und mehrfach geschlagen.

Während Claudio also an diesem Tag, an dem die Sonne für den Antifaschismus scheint, im roten Rom schwitzt, ist er sich nicht sicher, warum er da ist, was er da eigentlich treibt: Ist es Schaulust? Die Ehrfurcht vor dem Tod? Pathos, der ultimative Kniefall vor Enrico Berlinguer? In der Hitze der ewigen Stadt schleichen seine Gedanken träge umher, im Schatten seiner Erinnerungen wollen sie sich nur schwer bewegen, ohne Tempo oder Andacht. Guillermos eiserner Hintern kommt ihm in den Sinn, jener, der in den Kneipen im El Raval so legendär war wie Berlinguers Durchhaltevermögen in den Parteigremien der PCI. Damals, als Guillermo ihm in einer Barcelona Nacht die Vorzüge von Absinth und Eurokommunismus darlegte, sprang Claudio dem Tod zum zweiten Mal von der Schippe. Nun gut, eigentlich erst am darauf folgenden Tag, als er zu verkatert war, um am Ausflug mit Ruben und Norma teilzunehmen, an dessen jähem Ende das Cabriolet samt Insassen über die Klippen bei Cadaqués ins Meer fliegen sollte.

Eine Fahne mit Antonio Gramsci Zitat weht ihm ins Gesicht „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren.“ Er wischt sie zärtlich aus seinem Sichtfeld. Dort taucht der junge Michail Gorbatschow in der Nähe des Sargs auf. In wenigen Tagen wird die kommunistische Partei die Europawahlen gewinnen und Claudio mit zwei Bulgaren von Radio Free Europe im Münchner Hofbräuhaus sitzen ...

Neuropa ist ein Roman über Eurokommunismus. Über Enrico Berlinguers Beerdigung am 11. Juni 1984. Über Cultural Studies und das neue Europa. Über das wahnsinnige 20. Jahrhundert. Über einen argentinischen Torwart namens Claudio, einen gebrochenen Mann, der sich wieder aufrichtet, und über die Paraden seines Lebens.